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DIE RUNDHEIT DES LUFTBALLONS

EINE LEKTION

Verschiedenfarbig hätten sie sein sollen, mehrere bunte Ballons wünschte sich mein Lehrer. Die Anzahl war freigestellt, aber ungerade sollte sie sein; drei, fünf oder sieben Stück, gebündelt an Schnüren. Mit Bleistift waren zunächst die Konturen zu zeichnen, freihändig und möglichst exakt. Im zweiten Arbeitsschritt hatte man Wasserfarbe aufzutragen und dabei eine gewisse Harmonie zu beachten. Die Zeit war auf zwei Schulstunden begrenzt. Ein hübsches Kinderspiel, ein leichter Auftrag – möchte man meinen – für einen Elfjährigen. Tatsächlich machte mir das Malen Lust und so aquarellierte ich – mehr als drei Jahrzehnte ist die Geschichte nun her – sieben bunte Kugeln in den sieben Regenbogenfarben. Die Malstunde wurde zum Flug. Es kam mir vor als würde ich mit meinen Ballonen schweben, zum Fenster hinaus, hinüber zum Kirchdach und am Wetterhahn vorbei, hinunter zu den Flussauen, die immer schon meine Zuflucht waren. Oft und gerne und in allen Fächern unternahm solche Reisen; hinunter ins Tropfsteinhöhlenreich der Geografie, mit einer Zeitmaschine zu Spartakus, Sklaven retten, oder als Bücherwurm quer durchs Vokabelheft, um all die schmarotzenden Konsonanten zu eliminieren. Zugegeben, ich war ein Traumtänzer. Oft abseits der vorgegebenen Route. Vielleicht aber war ich doch viel mehr bei der Sache als es mein Lehrer zu wissen glaubte, mehr als seine übrigen Schützlinge, die immer brav aufgepasst haben und die bis heute meinen, ihnen sei nichts entgangen, weil sich der Lehrstoff nicht mit Träumen versponnen hat, sondern das Gedachte der anderen geblieben ist, das ihnen irgendwie nur übergestülpt wurde. Dank meiner Traumtänze konnte ich wenigstens hin und wieder aus mir selbst schöpfen und so habe ich mir vielleicht jenen Teil an Begeisterung bewahrt, der mich heute noch rettet. Von den vielen Gedichten, die ich unter Zwang auswendig lernen und gerade deshalb unvermeidlich wieder vergessen musste, war das schönste, von Nikolaus Lenau – wen wundert es? – nicht dabei: „Wer glaubt, gehorcht, des Fragens sich bescheidet, als frommes Kind sein Plätzchen Wiese weidet, dem wird wohl nimmer mit dem Futtergrase die Wahrheit freundlich wachsen vor die Nase.“ Doch zurück zur Luftballongeschichte und zu dem Bild, das ich mit traumhafter Leidenschaft malte. Jeder ernsthafte Künstler hätte mein Werk gewürdigt, weil es wirklich gut war und obendrein wert, eine Wand zu dekorieren. Weshalb mein Lehrer unzufrieden war verstehe ich bis heute nicht. Er kritisierte nur, die Luftballons seien nicht rund genug, unrund sogar, also viel zu bauchig. Und deswegen hatte ich sie als Hausaufgabe zu wiederholen, als Einziger der Klasse, was mich doppelt traf. Außer mir stand niemand in der Kritik. Vielleicht – so vermute ich – hatte ich zu lange aus dem Fenster gestarrt, war zu weit mit meinen Ballonen geschwebt und verplauderte zuviel Zeit beim Wetterhahn. Vermutlich nahm mich mein Lehrer exemplarisch ins Visier und ich hätte selbst dann keine Chance gehabt, wenn ich die Rundungen eines Peter Paul Rubens beherrscht hätte. Denn nicht die Rundheit war das Thema plötzlich, sondern der Bezug zwischen Lehrer und Schüler. Ich musste wohl büßen, weil ich nicht bei seiner Sache war, sondern in meine Gedanken versunken. Mich traf sein Richtspruch wie Kerker und Folter zugleich. Anstatt mit meinen beiden Gefährten Tom Sawyer und Huckleberry Finn in die Auwälder zu dürfen, um an den noch unreifen Trieben meiner Männlichkeit zu schnitzen, hockte ich bei Mutter am Küchentisch und versuchte Luftballone runder zu bekommen als sie in Wahrheit sind. Statt den Kieselsteinen auf den Flussgrund zu gehen, Unterwasser ihr Geschiebe zu hören und die schönsten heraufzutauchen, wurde ich meiner Natur beraubt. Das Zeichnen und Malen, das mir lieb war, hatte der Herr Pädagoge als Strafe missbraucht. Überflüssig, schändlich, schikanös empfand ich das. Stinkwütend war ich, trotzig genug, dem Hausaufgabenverlies standzuhalten. Und so wie der Graf von Monte Christo an Gitterstäben feilte, feilte ich an meinen Luftballons, an meiner Befreiung. Natürlich träumte ich wieder und wider, weil es ohne gar nicht geht! Gegen alle Widrigkeiten brachte ich ein heiteres, farbiges Gewirke zu Papier, sieben erneut prächtige Kugeln. Wieder war ich stolz auf mein Gemälde, stolz und erlöst. So sollte es vollbracht sein. Es sei keinen Pinselstrich besser als das Erste, ereiferte sich mein Lehrer. Er verlangte alles noch einmal, ein drittes Bündel, exakte Luftballone, damit ich es endgültig lernen würde, wie er sagte, das Unrunde in den Griff zu bekommen. Er behandelte mein schönes Gemälde respektlos. Doch des Dramas nicht genug: Um es mir zu zeigen – oder um sich selbst zu beweisen – stach er mit dem Zirkel in den größten der bunten Ballone. Ein perfekter Kreis wurde geschlagen, runder als die Erdkugel selbst, einengend und widernatürlich, unerträglich für jeden Luftballon, der sich durch Leichtigkeit selbst formen will. Ich spürte sein Zerplatzen. Er platzte lautlos für die Welt, bebend für mich im Innersten. Seine Farbe verblasste in sekundenschnelle, trübte ein, wurde immer kleiner und verschwand im Nirgendwo. Meine Augen benetzten sich. Ich durchlebte ein Insichzusammenstürzen, ein Geringwerden und Geringfühlen, äußerlich so unspektakulär, dass es keine Menschenseele bemerkte. Ich selbst nahm es kaum wahr. Es erstarrte irgendwie augenblicklich und ich war nur noch darauf bedacht meinen Zusammenhalt zu sichern, mich gefasst zu halten. Die Geschichte endet hier nicht, aber ich werde sie nicht mehr zur Gänze ausführen. Es ist nur ein Ausschnitt beschrieben, mein kleiner Einblick in ein System, das wohl eher ein Getriebe ist. Würde ich die ganze Entwicklung erzählen und von den Konsequenzen berichten die meine Weigerung, noch ein drittes Bild zu malen, nach sich zog, man würde es nicht wahrhaben wollen. Niemand würde mir glauben, dass ich einen disziplinarischen Sechser ins Zeugnis bekam, niemand, dass ein absurder Briefwechsel zwischen meinen Eltern und der Schule folgte, niemand, dass der Abfallkübel im Pausenhof durchwühlt wurde, um Beweismaterial gegen mich zu finden, gegen den elfjährigen Verweigerer, welcher nicht mehr willens war, zirkelrunde Luftballons bei seinem Pädagogen abzuliefern. Einen Roman könnte ich über dieses Schuljahr allein schreiben, einen unendlichen Zyklus über das Schülerdasein insgesamt. Man würde sagen: schlecht erfunden. Aber es hat sich so zugetragen und ich frage mich, wie es sich heute wohl zuträgt. Falls es sich um eine unendliche Geschichte handeln sollte, die nicht nur mich alleine betrifft, sie müsste viel tiefgründiger und gründlicher erzählt werden, viel universeller. Ich würde gerne einen Blick durchs Schlüsselloch moderner Klassenzimmer werfen, nachsehen: was hat sich am Schulwesen gebessert? Gewiss, die Räumlichkeiten wurden renoviert und saniert, ihre Einbauten von Asbest oder Formaldehyd befreit. Aber ist die Atemnot gelindert, die Beklemmung im Innersten gelöst? Wenn ich die Kinder an der Bushaltestelle sehe, beim Warten, Abfahren und Wiederkommen, dann frage ich mich, was sie neben ihren schweren Schultaschen noch alles zu schleppen haben. Ob sie einfühlsam behandelt werden im Unterricht, ob der Lehrer ihre abwegigen Gedanken respektiert? Oder steigt wieder einer aus dem Schulbus, der seine Luftballone nicht rund bekommen hat, der nachmittags keine Zeit finden darf, um durch die Auwälder zu streifen und dabei verträumt zu sein? Wissen unsere Pädagogen inzwischen, dass es gar nicht gelingen kann, lernen ohne zu träumen – oder?

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