Rubrik

01: IN STÜCKE … (1984)

GEFÜHLE

Wenn sich ein aufgeregtes Kribbeln in meinem Bauch löst und hochsteigt in meine Brust, wenn meine Brust tief Luft holt und sie in einen befreienden Seufzer verwandelt, wenn meine Kehle lautstark schluckt und ich deshalb vor Verlegenheit rot werde, dann spüre ich auch mein Herz schlagen.

ENDLICH

Endlich hatte ich meine Sehnsucht im Griff und ich war zufrieden. Endlich hatte ich meine Träume im Griff und ich war Realist. Endlich hatte ich meine Gefühle im Griff und ich besaß Logik. Schließlich hatte ich mich im Griff und war unfrei.

FREITOD

Es gibt Menschen, die ihren größten Auftritt im Leben durch ihren Abgang schaffen. Nur einmalig, vergänglich, morgen vergessen. Und wir – spielen weiter Theater!

IN STÜCKE ZERSPROCHEN

Soviel Gefühl, durch Daten entkräftet. Soviel Gedanken, nur angedacht. Soviel Kreativität, über Medien entsendet. Soviel Geformtes, destrukturiert. Soviel Liebe, in Stücke zersprochen. Soviel Zartes, reserviert für die Norm.

STERNWERTE

Als ich mir die Sterne ansah, das unendlich weite Weltall, da kam mir der Mensch unscheinbar klein vor. Als ich mir so klein vorkam da wurde ich wütend, weil ich nur noch nach oben blickte. Als ich so wütend nach oben blickte, kam ich zu dem Schluß, das Große weniger zu bewundern, das Kleine um […]

DIE SINNSUCHER

Die Sinnsucher graben nach Wortschätzen und die Fragensteller stellen Fallen. Einzig die Lebenskünstler bewirten den Lebensmüden und die Überdenker sortieren die Fragen. Die Weltverwässerer helfen den Sinnsuchern beim Graben. Sie ziehen ihre Kanäle und warten.

KINDERKURZMÄRCHEN

Ich habe gerade einen Augenblick Zeit, um dir ein Märchen zu erzählen: „Es war einen Moment mal…“

TABELLARISCHER LEBENSLAUF

zunächst unscheinbar dann für das Leben und nicht für die Schule gelernt später Lehrjahre die keine Herrenjahre waren danach der Ernst des Lebens letztlich ein ruhiger Lebensabend wieder unscheinbar unwiederbringlich

AUSVERKAUF

Firlefanz und Flitterkram bietet man mir feil. Und in dem Plunder, frisch erstanden, suche ich mein Heil. Was ich nur finde ist jedoch ein endlos leeres Loch, darin verschwindet Stück um Stück, das wonach ich such. 

IN ABENDBLUT

In Abendblut getauchtes, unerreichbares Lächeln. Dein Haare brennen und darin mein Gefühl. Im Kanal schwimmt ein Rest Sonne – auch er ertrinkt. Deine Rose welkt herzwarm in duftender Erinnerung.

BEINAHE

Wir gingen den selben umblühten Weg, nur einen Schritt auseinander. Wir redeten ohne Mathematik von dem was zählt, nur ich eine Oktave tiefer. Wir sahen uns verliebt in glasige Augen, nur einen Augenblick zu kurz. Um Haaresbreite verfühlten wir uns.

ENTTÄUSCHUNG

Deine Gefühle für mich sind weich und ich spüre wie klebrig deine Gedanken sind, die du an mir verschwendest. Doch nicht, dass du mich nicht leiden magst betrübt mich, sondern dein Tun als ob.

WUNDPUNKTE

Nun hast du mich getroffen, schmerzschwer ins Herz. Eine Seelenwunde, die träge vernarbt. Verletzt durch Phrasenschwerter, Wortsticheleien. Meine Tränen warten auf deine sanften Worte.

PLÖTZLICH

Plötzlich zuckte einer meiner Geistesblitze in das Gespräch und erschlug es.

LABYRINTH

Es fällt mir schwer durch Worte hindurch zu dir zu finden. Dein Geredelabyrinth lässt meine Gedanken verirren. Silbe um Silbe baust du daran. Geschlagen von deiner schlagfertigen Zunge kehre ich heim. So bleibst du mit deinem Satzbau allein.

IM TAKT

Im Takt die ganze Welt, obwohl der Rhythmus fehlt. Nur laut und lärmend, fast beschämend. Im Takt das ganze Land, marschiert mit Unverstand, schreiend mit Getose, im Mund die Schlagwortsoße. Im Takt ein kleines Lied, ein sanftes fürs Gemüt, bricht leise, ganz allein, dem dummen Marsch ein Bein. 

IN KÜRZE

Jahrmillionen Evolution Tausend Jahre Wunderbar Jahunderte Für manchen Baum Jahrzehnte Gar zum Brückenbaun Jahr für Jahr Voll Blütenduft Jeder Monat Lebenslust In einer Woche Sieben Träume Für Tage Stunden Zwischenräume Um Zeit zu finden für die Welt Minuten Um dir zuzuhören Sekunden Alles zu zerstören

STEINWURF

Ein Wort und ist es noch so leise, verloren aus deinem Mund – vielleicht reicht schon ein Zungenschlag? – reißt manche Herzen wund. Dein Stein, der auf das Wasser schlägt, sinkt lautlos bis zum Grund. Die Wellen aber, immer mehr, tun diesen Aufschlag kund. 

ICH HÖRTE DICH

Ich hörte dich über einen anderen reden, bis kein gutes Haar mehr an ihm war. Seither habe ich Angst, du könntest auch mir in den Rücken fallen.

VORURTEILE

Antworten bevor die Frage gestellt ist. Urteilen in Unwissenheit, verurteilen zu Unrecht. Marschieren ohne Ziel und niemals ankommen.

SELBSTVOLLES GEREDE

Selbstvolles Gerede sucht nach Publikum und Applaus. Gerede, aus sattgehörten lauwarmen Worten. Tatenreiches Schweigen gibt sich bescheiden.

FETTE NICHTIGKEITSGEDANKEN

Fette Nichtigkeitsgedanken ätzen Löcher ins Gefühl. Ein Seelenvakuum der Rest. Rechtwinkelige Überlegung baut Sperriges. Für die Zärtlichkeit Pest.

DIE AUFWÄRTSDENKER

Die Aufwärtsdenker drehen Pirouetten, kinderkreiselgleich Löcher in die Erde. Propellerschnell schlagen sie schaumigen Wind Fleißig die  Umkehrdenker, fangen Wind in ihren Rädern. 

DIE FLÜCHTIGKEIT

Die Flüchtigkeit macht schnelle Sprünge, berührt nur oberflächlich Boden, träumt nur am Rande von den Wolken, hört nie die inhaltsvollen Worte. Vergebens trägt der Wind sie nach.

FEIERTAGSENTDECKUNGEN

Pressblumenflecken zeugen von grausamen Taten – das Buch hat sowieso Falten. Fleischbrandgeruch lässt sinnlos Speichel fließen. Leblos im Lehnstuhl schieb ich Gedanken vor mir her. Irgendwo hämmert Marschmusik. Eine Spinne webt ihr schönstes Sonntagsnetz. Es scheint das Haus zu halten. So gehört doch eins zum andern.