05: STEIG & STILLE (2010)
KEIN ZUSTAND FÜR MICH
Stille ist kein Zustand für mich. Stille habe ich nie ausgehalten. Stillstehen, Stillsitzen, Stillsein. Alle Stillstandsformen sind mir unerträglich, seit ich laufen lernte. So weit meine Erinnerung trägt verspüre ich den Drang mich loszureißen, immer dann, wenn es reizlos wird.
WAS MICH REIZT
Was mich reizt sind Wind und Bewegung. Wind von außen, Bewegung von innen. Wellen in jeder Form. Ich lasse mich fortreißen, mitreißen, hinreißen. Will selbst fortreißen, mitreißen, hinreißen. Beständig Welle sein.
DER IDEALE ORT
Berge sind der ideale Ort für einen wie mich. Fels und Eis ergiebig fassbar machen. Je höher es zu klettern gilt, desto wilder wird das Trommeln der Gefühle. Äußerlicher Reiz und inneres Erheben bedingen einander. Ruhe auch. Wer Stille im Gebirge sucht, der findet sich im Irrtum wieder.
BERGWÄRTS
Antrieb und Reiz ziehen mich bergwärts, schieben mich verdrängend dorthin, wo sich alles bewegt und der Fels friedlos wird. Gewaltig hat er sich geformt, durch stetes Brechen und Gefrieren. Es ist ein Auftürmen und Zerfurchen, ein Verwittern und Entspringen. Aufsässig wildklüftig ist es, niemandem Rückschritt schuldig.
RESTSCHNEE
Mag Restschnee unter meinem Schuh klagen, die kalte Zeit ist vorbei. Schmelzwasser murmelt mir leise von Wärme, springt bald wie ein gehetztes Tier und fauchend seewärts hinab über moosige Abgründe. Ich höre Steine aufschlagen, die losgelöst mitgerissen in die Tiefe grollen. Um keinem Schwindel zu erliegen, angesichts langer Vergessenszeit, klammert sich der Blick an kundige […]
FERNE ANREISE PRÄGT
Ferne Anreise prägt. Die Straße streckt sich lang in mir. Wie Beschleunigung und Fliehkraft bin ich geworden, ein Hin und Heer an Schwung, verschmolzen mit Wille, beteiligt zu sein. Das ist das Geheimnis des Fortkommens: Wer nie mit seinem Tun verschmilzt, der lässt sich willenlos bewegen, der hat kein Ziel und bleibt unerreicht. Erst Verschmelzung […]
UNFRIEDE
Bewegung schafft Unfriede, den Zustand des Stillseins zu bekämpfen. Lust und Antrieb setzen mich in Marsch. Die Angst indes will keinen Streit und lähmt. Oft ist man zweierlei, Adler und Kriechtier. Was bin ich von beidem mehr? Und wer wäre ich, ohne das Gegenstück in mir? Wem gehören nun die Flügel? Ungläubig blicke ich zurück […]
VOM URSPRUNG ENTFERNT
Je mehr man sich vom Ursprung entfernt, Grenzen überschreitet und Schlüsselstellen bezwingt, desto fraglicher wird eine Rückkehr. Jede Reise lässt dich heimatloser werden. Entfernung entfremdet. Dort wo ich nicht bleibe, über kurz oder lang, geschieht Veränderung ohne mich. Dennoch verschwende ich nichts beim Reisen, sondern riskiere Veränderung an neuer Stelle und werde selbst durch Hindernisse […]
GIPFELGEIST
Den Gipfel schiebe ich vor mir her. Zäh wie das Bemühen selbst sind Geist und Gelenke. Eine Seilbahn würde mir Zeit und Herzschlag sparen. Doch je eiliger ich Ziele einstreiche, desto mehr Reste sind zu vermissen. Schrittiger Rhythmus ginge verloren. Ich käme zwar unverbraucht an, könnte obenauf stehen, billigen Stolz zeigen und ins Land blicken, […]
MARKIERUNGEN
Strebe, laufe, steige selbstwärts, wähle zielend nie ein Symbol, ob Mond, Stern oder Kreuz. Kein Gipfel markiert die Wahrheit. Dieser Glaube ließe verarmseligen. Von Zwischenstation zu Zwischenstation trägt es uns weiter, unwissend wohin und warum. Meine Suche treibt mich an. Reifen will ich und Weisheit forschen, mir selbst näher kommen durch fragende Fortbewegung. Ungenügsam alles […]
SEIDENE TRAGKRAFT
Gerede hat nur seidene Tragkraft, Worte verlieren sich leicht gläubig. Um kein Wort fallen zu sehen, dort wo der Tiefblick Schwindel erregt, werde ich achtsam. Ein Ausrutscher hieße Wortbruch, die versprochene Rückkehr wäre Lüge. Daran erinnern Gedenktafeln. Sie machen kleinlaut und schüren mein Schweigen. Für Schrecksekunden bleibe ich schüchtern. Doch kaum windet sich der Steig […]
SCHUTZHÜTTE
Die Alm liegt so geschützt am Schattenrand der Lichtung, dass sich zahllose Wanderer einfinden. Alle strömen in die helle Stube wie murmelndes Quellwasser. Von frechem Gesprüch und Kräutergeist begrüßt krümmen sich Raum und Zeit. Das Warten wird relativ. Nicht ein Reisender drängelt, obgleich großer Mangel herrscht. Jeder nimmt Hunger in Kauf und verschenkt selbstlos Vortritt.
EIGENGERUCH
Jede Hütte hat ihren Eigengeruch und spätestens zur Nachtruhe wird der Wanderer selbst so riechen, wie Lager, Küche und Waschsaal zugleich. Manchmal stechen Parfümmenschen heraus, dann wieder jene, die ihren Schweiß nicht ahnen. Menschlicher Fortschritt lüftelt. Bergsteigerfüße entsenden ihren Gruß, ob du Teilhabe willst oder nicht. Sie schmecken nach Blankheit, nach zig Stundenmärsche feuchter Socken […]
BROTVERMEHRUNG
Es begab sich, dass der Wirt die einzigen sieben Brote und Fische nahm und sagte: Ich habe Mitleid mit diesen Menschen, die Leute sollen auf dem Boden schlafen. Er schenkte alten Wein aus neuen Schläuchen und abermals seinen Kräuterlikör, dann geschah der Zauber: Alle tranken, aßen und wurden satt. Die übrigen Brotstücke sammelte er ein.
ERTRÄGLICHES SIGNAL
Ich habe im obersten Stockwerk meine Matratze gefunden, im Winkel der Dachschräge. Aus jeder Ritze heult ein gieriger Wind. Ich kenne sein Wolfsrudel, das Scharren an Schindeln und Wellblech. Es ist mir erträglich vertraut und würde fehlen, wären Nacht und Himmel ohne Signal.
LIDER ZU LAUB
Mit dem Alter färben sich die müden Lider zu Laub. Wehmut kling im Ohr. Oft habe ich hier schon Nächte vollbracht, gesungen und Gitarre gespielt. Auch gelungene Stücke von mir. Man sagte, es sei wieder so wie früher gewesen. Doch die Wahrheit ist, dass ich nie mehr der selbe war danach.
HÜTTENABENDE
Hüttenabende haben Rituale und Rollen. Jeder polternde Gast folgt den ganzen Abend lang der Inszenierung. Spielverderbender Zeremonienmeister ist der Wirt, Herr über Zapfhahn und Zapfenstreich: Aaadeeeee zur guten Nacht, jetzt wird der Schluss gemacht, lalaa lalaa la la laa…. Man geht von Glück beschwipst zu Bett, mit Liedern im Blut und die Treppe aufwärts schwankend, […]
SPÜREN MÜSSEN
Ein Horizont Unbegreiflichkeit macht bodenlos. Wer sich zu oben fühlt, wird Abgründe spüren müssen. Du blickst in jede Richtung nach Einhalt, denkst, dass es noch Traum ist oder Lüge, aber die Blicke der Freunde bleiben versteinert. Vom Frühstück gelingt dir kein Bissen und du schluckst Tränen. Gedankenleere herrscht, verhasste Stille. Einmalig gnadenlos ist das Unumkehrbare.
SCHLECHTER TROST
Erinnerungen sind ein schlechter Trost, wenn Tröstliches nötig wäre. Sie wühlen schmerzhaft Ohnmacht auf und Fragenwut. Sind wir doch nur Räderwerk, die kleine Nachtmusik einer Walze? Wer schrieb meinen Eintrag ins Hüttenbuch wirklich? Wir umarmten einander wortlos, packten ohne Plan die Last jenen Tages und schnallten unsere Ski an zittrige Beine. Und weil ich nur […]
GIPFELGLÜHEN
Vom Glühen des Gipfels geködert, so drängend, dass kaum Zeit bleibt zum Schnüren der Senkel, bin ich leichten Fußes auf den Stufen. Strenges Binden schränkt den Weg, doch auch zu locker darf kein Stiefel sitzen. Jeder Fortschritt will Maß halten und ausgewogenen Trittes sein. Mein Gespür für Balance entscheidet über das Wirken von Last. Weder […]
WAHRHEIT IST EINBILDUNG
Jeder Gipfel scheint mein Wesen zu ändern, doch die Wahrheit ist Einbildung. Kein Weg berührt mich. Unterwegs bin ich es, der sich rührt und bewegt. Alles kommt von innen, antwortmüßig auf selbstgestellte Fragen. Meine Sehnsucht sucht, sie wird von keinem Berg gerufen, von Gipfelglück gefesselt. Alles ist so winzig oder groß wie meine Fantasie es […]
BERAUSCHUNG
Wer will gerne ehrfürchtig werden beim Anblick des Unermesslichen? Berauscht uns dieser Kosmos nicht alle? Doch Furcht ist ein schlechter Gefährte durch Raum und Zeit, solch Zittern bringt mich nach Nirgendwo. Ehrfurcht lässt erstarren, still werden. Aber Stille ist kein Zustand für mich. Stille habe ich nie ausgehalten. Stillstehen, Stillsitzen, Stillsein. Alle Stillstandsformen sind mir […]
SCHNEELUFT
Die Rast ist kürzer als gewünscht, denn Fernweh macht Genießen schwer. Der Gipfel zeigt weitgesteckte Vorhaben und den Wolkenzug der Sehnsucht. Ich kann diese Sicht nicht beworten, euch nie so tief teilhaben lassen. Mein Erleben, jedes Staunen und Gefühlhaben bleiben ureigen. Sonst wäre Schneeluft zu erklären und die Farbe frischer Blüten.
LÄCHERLICH ZERBRECHLICH
Vor etlichen Jahren bin ich hier oben beim Abstieg gestürzt. Seither weiß ich Bergeinsamkeit weniger zu schätzen als den Flügelschlag des Hubschraubers. Eine kleine Unachtsamkeit und schon ist man Fehltritt geworden, ein Ausrutscher, die Ursache des Einsatzgeschehens. Wie lächerlich zerbrechlich sind wir eigentlich wirklich? Plötzlich wäre es um einen bestellt, würde der Zufall anders würfeln.
ABKÜRZUNGSLOS
Die Stückelung von Schritten ist ein halbherziger Weg, denn Täler oder Flüsse lassen sich nicht überspringen wie Gräben und Bäche. Ich will meinem Weg nicht entgehen, er soll von mir begangen zur Reise werden. Jeder Millimeter wird mir gehören. Wer sich Weg spart, der schenkt Erinnerungen her und wird das Unbeschreibliche von anderen hören, ohne […]